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Glimmer-Kinder

Kinderarbeit in Indien

Sie arbeiten in Indiens Minen für Make-Up und Autolack. Und manchmal sterben sie dabei. Eine Visual Story von Marius Münstermann und Christian Werner

 
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Mit sechs Jahren kroch Badku Marandi zum ersten Mal in den Stollen tief unter der knochenharten Erde. Hier, im Bundesstaat Jharkhand, im bitterarmen Nord-Osten Indiens, gibt es in den trockenen Monaten vor dem Monsun für die Menschen nur eine Einnahmequelle: Tag für Tag verlassen sie deshalb ihre Dörfer, um in den bewaldeten Hügeln ihr Glück zu finden.

 

Doch manche finden stattdessen den Tod.

Feine Partikel lassen die Hügel in der Sonne glitzern. Die Erde steckt voller Glimmer, schimmernden Mineralen. Je tiefer man gräbt, desto größer werden die Glimmer-Brocken. Doch mit jedem Meter und mit jedem Hammerschlag steigt die Gefahr, unter der Erde begraben zu werden. So wie Badku. Wofür die Minerale verwendet werden, die er und all die anderen zu Tage fördern, weiß Badku bis heute nicht:

Kapitel 1: Im Stollen

Ob Lippenstift von L'Oréal oder Autolack von BMW und Volkswagen - viele große Unternehmen oder ihre Zulieferer kaufen für ihre Produkte Glimmer aus Jharkhand und Bihar. Laut einer indischen Exportdatenbank wurden in den ersten drei Monaten dieses Jahres über den Hafen von Kalkutta allein an Unternehmen in Deutschland über 1300 Tonnen Glimmer verschifft. Wir haben mehr als ein Dutzend Unternehmen, die Glimmer aus Indien kaufen, zu ihrer Lieferkette befragt. Alle Unternehmen teilen mit:

Man sei sich der Kinderarbeit in den Glimmer-Minen bewusst und arbeite daran, die Situation zu verbessern.

Im Glimmer-Gürtel von Jharkhand und Bihar leben ganze Dorfgemeinschaften vom Abbau der Minerale, die sie in den Wäldern aus der Erde holen. Die niederländische Recherche-Organisation SOMO schätzt, dass rund 80 Prozent des Glimmers in der Region aus solch informellen Minen stammt. Wobei Minen ein irreführender Begriff ist. Es handelt sich eher um Gruben.

Einige klein wie Kaninchenlöcher, andere so groß, als seien sei von Baggerschaufeln ausgehoben worden.

Manche sind weithin vom Straßenrand einsehbar, die meisten aber liegen tief versteckt im Wald. In den Minen hocken Mädchen, die oft noch Kinder sind, zusammen mit den Frauen und den älteren Männern, die zu gebrechlich für die harte Arbeit unter Tage sind. Sie zerbröseln den Glimmer und sortieren die Stückchen. Wenn sie kein Glimmer mehr finden, ziehen die Menschen weiter.

Zurück bleiben Kuhlen, die wie kleine Mondkrater aussehen.

Stoßen die Arbeiter jedoch auf eine vielversprechende Glimmer-Ader, graben sie tiefer. Die Männer treiben mit Hammer und Brecheisen Stollen in den Boden, die von keinem Gebälk gestützt werden. Mit einer 360°-Kamera klettern wir in eine der Minen - und Badku erzählt, warum die Arbeit darin so gefährlich ist:

Schürfwunden und Knochenbrüche gehören in den Glimmer-Minen zum Alltag. Die Arbeiter haben Angst vor Skorpionen, die sich unter den Steinen verstecken. Und dann ist da noch der Quarzstaub, den die Arbeiter aufwirbeln und einatmen. Abends kehren sie mit rasselndem Husten heim. Viele der Arbeiter erkranken an Asthma und Staublunge, wodurch ihre Lungen wiederum anfälliger für Tuberkulose und Krebs sind. Um sich Medikamente und Krankenhausaufenthalte leisten zu können, verschulden sich viele Familien.

Um die Schulden begleichen zu können, müssen sie noch mehr Glimmer abbauen.

Auch die Kinder. Die Jungen schaffen den Glimmer in Körben ans Tageslicht. Bis sie selbst kräftig genug sind, um stundenlang zu hämmern.

Die Nichtregierungsorganisation Bachpan Bachao Andolan (BBA), deren Gründer Kailash Satyarthi für seinen Kampf gegen Kinderarbeit 2014 den Friedensnobelpreis erhielt, verfolgt die Situation im Glimmer-Bergbau seit Jahren. Monat für Monat dokumentiert BBA zwischen zehn und zwanzig Todesfälle in eingestürzten Glimmer-Stollen.

Ein Informant von BBA, der namentlich nicht genannt werden möchte, sagt, das Glimmer-Geschäft sei von einer "Kultur des Schweigens" umgeben. Er erzählt vom Schicksal einer Frau, die in einem der Stollen ihr Leben ließ. Ein Arzt habe stattdessen als Todesursache auf dem Totenschein "Sturz vom Dach eines zweigeschossigen Hauses" notiert:

"Dabei gibt es auf den Dörfern keine Häuser mit mehr als einem Stockwerk", sagt der Informant.

Er vermutet: Der Arzt habe Nachfragen der Polizei vermeiden wollen, niemand wolle mit dem illegalen Geschäft zu tun haben. Dass es lebensgefährlich ist? Nehmen die Menschen hier hin. Was sind die Alternativen? Badku ist sieben Jahre alt, als die Mine, in der er gerade arbeitete, einstürzt:

Laut Gesetz dürfen in Indien Jugendliche unter 14 Jahren nicht arbeiten, schon gar nicht in gefährlichen Jobs wie der Arbeit im Bergbau. Die Behörden wollen deshalb mit dem illegalen Glimmer-Geschäft aufräumen. Der Plan: Das Bergbauministerium soll neue Lizenzen vergeben, ausschließlich an Minenbetreiber, die Arbeits- und Umweltschutzstandards einhalten und Kinderarbeit ausschließen.

Wer weiterhin illegal Glimmer abbaut, soll verfolgt und bestraft werden.

Die Polizei beschlagnahmt zwar ab und zu Lastwagen, die mit Glimmer aus einem der Dörfer in die Städte fahren. Doch von den Lizenzen, die seit Beginn des Jahres vergeben werden sollten, wurde bislang nicht eine erteilt. Stattdessen hat die Ankündigung der Behörden, mit harter Hand gegen den illegalen Glimmer-Markt vorzugehen, die bisherige Grauzone weiter verdunkelt.

Aus Angst vor der Polizei graben die Menschen ihre Löcher nun noch tiefer im Schutz der Wälder.

Auf der Suche nach Glimmer-Resten klettern sie in verlassene Stollen, die teils vor Jahrzehnten aufgegeben wurden. Unfälle werden noch seltener gemeldet, seit die Menschen Angst vor Strafverfolgung haben. Unterdessen läuft das Geschäft weiter - noch unübersichtlicher und noch gefährlicher.

Kapitel 2: Die Händler

In einer Seitengasse auf dem Markt von Jhumri Telaiya, einem der wichtigsten Glimmer-Handelszentren der Region, haben die Händler ihre Läden. Von wo kaufen die Händler ihren Glimmer? Und an wen verkaufen sie?

Schnell sind wir umringt, erst von zwanzig, bald von dreißig Männern.

Kinderarbeit? Gibt es hier nicht, behaupten alle.

Schaut euch um, in den Läden arbeiten nur alte Männer. Mit großen Scheren trennen sie Schicht um Schicht von den Glimmer-Brocken.

Die Händler reden durcheinander, machen sich wichtig. Doch vor der Kamera will nur einer reden. Sandeep Jain nimmt uns beiseite und setzt sich in seinen Laden. Es wird ein unruhiges Interview, die Stimmung ist angespannt. Die anderen Händler stehen im Halbkreis in unserem Rücken. Sie tuscheln, unterbrechen ihren Kollegen, wenn er etwas erzählt, das ihnen nicht gefällt:

 

 

 

Viele der Minen-Arbeiter sind Adivasi, Mitglieder der indigenen Bevölkerungsgruppen Indiens. Heute oft Ausgeschlossene im eigenen Land.

Oder Dalits, die sogenannten Unberührbaren, gefangen in der niedersten Stufe des hinduistischen Kasten-Wesens.

Beide Gruppen gehören zu den Ärmsten der Armen. Nur wenige von ihnen besitzen das Land, auf dem sie arbeiten. Deshalb müssen sie oft sogar noch Pacht oder Schürfrechte zahlen. Doch wovon sollen sie sonst leben? "Der Glimmer gehört uns", sagen die Menschen hier. Sie leben davon. Er ernährt sie und lässt sie ihre Kinder zur Schule schicken. Zumindest, wenn sie nicht in den Minen arbeiten müssen. Und die Gesetze?

 

Kapitel 3: Konzerne

Gibt es einen Ausweg? Das einzige Unternehmen, das von sich behauptet, schon heute nur Glimmer aus legalen Minen zu kaufen, ist der deutsche Chemieriese Merck, einer der größten Glimmer-Importeure aus Indien. Das sollen firmeninterne Dokumente beweisen, in die Merck dem SPIEGEL Einsicht gewährt hat.

Dabei gibt es den indischen Behörden nach gar keine legalen Glimmer-Minen in der Region.

Weil auf die Behörden wenig Verlass sei, habe Merck selbst bereits vor zehn Jahren die Initiative ergriffen: Man habe inzwischen verantwortungsvolle Lieferanten gefunden, die Arbeitsschutzstandards einhalten. Und: In deren Minen arbeiteten keine Kinder.

Zusammen mit anderen Unternehmen - darunter auch H&M, Chanel und dem Elektronikhersteller Philips - hat Merck Anfang des Jahres die "Responsible Mica Initiative" ins Leben gerufen. Ihr Ziel: Bis 2022 soll Schluss sein mit Kinderarbeit in den Glimmer-Minen, die Unternehmen wollen dann nur noch Glimmer aus legalen Quellen kaufen. Aber sind die Lieferanten tatsächlich kontrollierbar?

Ein Beispiel: Der chinesische Farbpigmenthersteller Kuncai - neben Merck der größte Glimmer-Käufer der Region - kauft nach eigenen Angaben Glimmer aus Minen, von denen Merck behauptet, sie würden ausschließlich Merck beliefern. Die Recherche ergibt viele solcher Widersprüche, die sich nicht auflösen lassen. Zu unübersichtlich und intransparent ist der Glimmer-Handel.

Auf den Produktetiketten verstecken sich die Glimmer-Minerale oft hinter ihrem Englischen Namen, mica, oder dem Farbstoffkürzel CI 77019. Auch die Suche nach dem Ursprung des Glimmers gestaltet sich schwierig.

Um sicherzustellen, dass die Lieferanten kein Glimmer aus illegalen Minen beimischen, setzt Merck auf ein Nachverfolgungssystem: Die Minenbetreiber halten die tägliche Fördermenge einer Mine in einem Logbuch fest. Für diese Mengen zahlen sie Abgaben an die Regierung. "Wenn Glimmer aus unkontrollierten Quellen mit verwendet würde, müssten die Minenbesitzer auch für diese Glimmermengen Lizenzgebühren zahlen. Dies ist wirtschaftlich nicht sinnvoll, denn der Glimmer wäre für den Minenbesitzer teurer als der in seiner Mine geförderte", so Mercks Argumentation. Allerdings geben viele Händler während unserer Recherche an, auch für illegal abgebauten Glimmer Gebühren an die Regierung zu bezahlen.

Hauptsache, das Geschäft läuft unbehelligt weiter.

Auch in dem Dorf Kanichihar, wo Badku lebt, mitten im Glimmer-Gürtel. Tag für Tag gehen die Männer weiterhin in die Minen. In der langen Trockenzeit, in der die Reisfelder verdorren. Nach Badkus Unfall sollte auch er wieder zurück in die Stollen. Weiterhämmern. Wie fast alle hier. Doch Badku weigerte sich. Zurück in eine der Minen, die ihn lebendig begraben hatte?

Er sagte nein. Und hatte Glück:

Das Team

Published by:

DER SPIEGEL
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